Der Unterschied zwischen Kurzgeschichte und Erzählung (Was ist eine Szene?)

17.02.2020 11:57 (zuletzt bearbeitet: 17.02.2020 12:55)
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Wir haben dieses Thema schon in der Übersicht über Roman, Novelle, Erzählung und Kurzgeschichte angerissen (Was ist der Unterschied zwischen Roman, Erzählung, Novelle und Kurzgeschichte?): Der große Unterschied zwischen den Erzählformen ist tatsächlich der Umfang. In eine Erzählung passt mehr Stoff hinein als in eine Kurzgeschichte, größere Zeitabschnitte, mehr - Szenen.

Mit dem letzten Begriff sind wir bei etwas besser Fassbarem, mit dem sich glücklichweise auch Erzählung und Kurzgeschichte klar voneinander trennen lassen, ohne lange Zeichen, Wörter und Seiten zählen zu müssen. "Szene", das hat auch endlich mehr mit dem Schreiben zu tun.

Eine Kurzgeschichte hat in der modernen Definition nur eine Szene, eine Erzählung kann nur aus einer Szene bestehen, aber in den meisten Fällen wechseln Schauplätze und die Zeit schreitet portionsweise voran, sodass wir mehrere Szenen benötigen. Bleiben wir bei dem Begriff Szene: Was ist das jetzt genau?

Eine Szene
Der Begriff "Szene" kommt aus der Theaterwelt. Eine Szene ist die Verbindung zwischen Zeit und Raum, die sich ohne Wechsel des Bühnenbilds darstellen lässt. Nehmen wir die berühmte Balkonszene aus Shakespeares "Romeo und Julia". Romeo gesteht Julia seine Liebe, die Nachtigall ruft und Romeo verspricht, sich bei Pater Lorenzo für eine rasche Trauung zu verwenden. Der Vorhang fällt und öffnet sich wieder mit einem Bühnenbild, das Pater Lorenzos Klostergarten zeigt. Das Kloster wird auch nicht gerade an der nächsten Straßenecke stehen, sodass bereits eine größere Zeitspanne vergangen ist, bis Romeo bei Pater Lorenzo eintrifft. In Pater Lorenzos Kräutergarten beginnt eine neue Szene in einem neuen Raum und in einer neuen Zeitspanne.

Szenen sind das, was als Wesen der modernen Kurzgeschichte gern die "Einheit von Zeit und Raum" genannt wird (Wie ist eine Kurzgeschichte aufgebaut?). Eine Szene spielt an einem Ort mit kontinuierlich fortlaufender Zeit und Handlung. Da gibt es keine seltsamen Brüche, plötzlich vom Himmel fallende Darsteller oder ein paar fehlende Stunden, die sich der Zuschauer "denken" muss. Die Szene beginnt in einem als Kulisse erfassbaren Raum vor dem Theaterbesucher und sie setzt sich unterbrechungsfrei fort, bis der Vorhang fällt.

Eine Kurzgeschichte ist eine einzige Szene und sie endet, wenn der Vorhang fällt.

Beispiele
Nehmen wir Ernest Hemingways Kurzgeschichte "Cat in the Rain" und die Erzählung (das Märchen) "Kalif Storch" von Wilhelm Hauff.

"Kalif Storch" umfasst einen langen Zeitrahmen: Ganz zu Anfang sind da der Kalif von Bagdad und sein Wesir, die unbedingt ein Zauberpulver von einem fliegenden Händler ausprobieren müssen. Der Händler erklärt ihnen die Wirkungsweise und dass sie nicht lachen dürfen, wenn sie die Wirkung noch einmal umkehren wollen. Kalif und Wesir probieren das Mittel und verwandeln sich in zwei Störche. Sie können sich in einer ganz neuen Perspektive unter den Tieren bewegen, die gleichzeitig so furchtbar lächerlich erscheinen. Schnell ist die Warnung des Händlers vergessen und die beiden schütten sich aus vor Lachen. Weg ist das Zauberwort, das die Verwandlung rückgängig macht. Eine Odyssee beginnt, an deren Ende Kalif und Wesir auf eine Eule treffen, die ganz offensichtlich auch ein Mensch in Tiergestalt ist. Die Eule kann den beiden einen entscheidenden Hinweis auf einen geheimen Aufenthaltsort des Zauberers, der das Pulver hergestellt hat, geben. Nachdem sie sich dorthin bewegt haben, können sie den Zauberer belauschen und das vergessene Lösungswort erfahren. Die Odyssee kommt zu einem glücklichen Ende, bei dem der Kalif mit einer hübschen Frau (der zurückverwandelten Eule) belohnt wird und der Zauberer zu Tode kommt.

Ich muss es wahrscheinlich nicht betonen: Diese Odyssee ist nicht in einem Tag getan und da werden richtig lange Wegstrecken in andere Umgebungen zurückgelegt. Wollten wir diese Erzählung auf einer Bühne darstellen, müsste mehrfach der Vorhang fallen, weil Zeit und Raum wechseln. Die Erzählung ist aus mehreren Szenen aufgebaut.


"Cat in the Rain" dagegen spielt in fortlaufender Handlung einem italienischen Hotel und dort hauptsächlich im Zimmer eines jungen Ehepaars. Die junge Frau ist nicht sehr glücklich mit ihrem Partner, der offensichtlich mehr Interesse am Lesen von Büchern hat, als an ihr. Sie sehnt sich nach mehr Emotionalität und - nach einem Kind. Dieser Wunsch wird auf ein kleines Kätzchen projiziert, das sie draußen im Regen erblickt und das sie so gern umsorgen möchte. Die Geschichte endet im Desaster: selbst der väterliche Hotelbesitzer, dem sie so viel Zuneigung entgegenbringt, versteht nicht, wonach sie sich sehnt und lässt der Signora eine dicke alte Katze bringen.

Die Kurzgeschichte ist eine einzige Szene, die ohne Handlungsunterbrechung in einem Hotel spielt. Sie bewegt sich folgerichtig in der Zeit vorwärts. Der Leser ist in einer Position wie ein Theaterbesucher im Auditorium: das Stück beginnt und setzt sich fort wie ein Erlebnis im wahren Leben. Im Gegensatz zu der Erzählung umfasst die Kurzgeschichte nur eine Szene.


Um noch einmal darauf hinzuweisen: Es gibt Stoffe, die passen in eine Kurzgeschichte, dann schreiben wir ein "Cat in the Rain" und es gibt Stoffe, die benötigen mehr Raum, dann schreiben wir eine Erzählung, eine Novelle oder einen Roman. Wie das Ding hinterher heißt, bestimmt der Stoff. Wenn eine Schreibübung in einer Schreibwerkstatt oder einem Schreibforum fordert, eine Kurzgeschichte zu schreiben, sollte es eine einzige Szene werden. Dann ist es unser Job zu prüfen, ob der Stoff sich unfallfrei in eine Kurzgeschichte füllen lässt, oder ob wir einen anderen Behälter brauchen. So einfach ist das - keine Schreibregeln, sondern nur ein paar grundsätzliche Schreibformen, die sich selbst ergeben, wenn man den Stoff sich entwickeln lässt.


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