Was ist der Unterschied zwischen Roman, Erzählung, Novelle und Kurzgeschichte?

24.01.2020 17:37 (zuletzt bearbeitet: 25.01.2020 12:21)
avatar  Sabine
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Wenn man einen Softwareentwickler fragt, was jetzt eigentlich ein Programm ist und wie es denn funktioniert, erwartet man eine Erklärung wie aus Tausend-und-einer-Nacht, in der fantastische Begrifflichkeiten und metaphysische Anklänge auf uns niederprasseln. Tatsächlich sagt der trockene Typ dann aber sowas wie: "Das ist eine Abfolge von Anweisungen."

Ja, das ist mein Beipackzettel aus der Tablettenpackung auch, wird man dann denken und enttäuscht seufzen, weil das Geheimnis von Software-Code in weite Ferne gerückt zu sein scheint.

Tatsächlich ist es erst dann möglich, diese dröge Definition zu verstehen und für richtig zu befinden, wenn man sich auf den Hosenboden setzt, die ersten Zeilen Code schreibt, wieder und wieder verändert und jedes Mal sieht, was die gerade geschriebenen Anweisungen denn bewirken.

Die Schreibformen "Roman", "Erzählung" und "Kurzgeschichte" sind ähnlich unbefriedigend, wenn es an eine Erklärung geht. Die Definition ist nämlich an etwas Trivialem festgemacht: an der Länge.

Der Roman ist die Langform, scherzhaft als "epische Breite" bezeichnet. Wenn man zwischen 300 und sagen wir: 1.000 Seiten Platz hat, kann man Stoffe von wahrhaft epischer Breite verarbeiten, Geschichten, die mehrere Generationen umfassen, Geschichten mit mehreren parallel laufenden Zeitsträngen.

Sowas passt nicht mehr in eine Erzählung oder eine Novelle hinein. Sie ist kürzer. Wir müssen unser Thema einfach zu Anfang fragen, ob es noch in eine Erzählung oder Novelle passt, und wenn es nein sagt, muss der Roman her.

Unter einer Kurzgeschichte versteht man heutzutage häufig eine einzige Szene mit Wandlung (Wie ist eine Kurzgeschichte aufgebaut?). Kürzer gehts tatsächlich nicht mehr, wenn wir eine vollständige Geschichte erzählen wollen. Hemingway, dem man die Erfindung der Kurzgeschichte zuschreibt, hat noch mehrere Szenen mit wechselnden Orten und Zeiten aneinanderreihen können, bis es in unserer Zeit jemand auf den Punkt gebracht hat mit der Kürze.

Übrigens: Wenn du beim Schreiben einer Szene für eine Kurzgeschichte feststellst, dass sie weiter will, dass ein Schauplatzwechsel ansteht oder die Geschichte einen längeren Zeitraum umfassen möchte, bevor die Wandlung greift, dann schreib eine Langform. Der Inhalt bestimmt die Form. Es gibt Inhalte, die passen einfach nicht in eine Kurzgeschichte oder Erzählung oder Novelle.

Die Bedeutung dieser grundlegenden Schreibformen begreift man erst dann so richtig, wenn man sich auf den Hosenboden gesetzt und selbst geschrieben hat. Und dann sind sie auch nicht mehr so wirklich wichtig.


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