Wie geht gleich Suspense?

28.01.2020 17:04 (zuletzt bearbeitet: 28.01.2020 17:20)
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Eine der wichtigsten Voraussetzungen dafür, dass deine Geschichte bis zum Ende gelesen wird, ist etwas, das in der englischsprachigen Welt Suspense (sprich: Ssösspenz) genannt wird und im Deutschen eigentlich keine richtige Entsprechung hat. Suspense wird mit Spannung, Ungewissheit übersetzt und hat den Charakter eines der vielen Wörter, die die Ennuit (die Eskimos) für die verschiedenen Zustände von Schnee haben. Im Deutschen kennen wir nur Schnee, so wie wir nur Spannung kennen.

Der Unterschied in den verschiedenen Arten von Spannung liegt in der zeitlichen Dimension: Spannung, wie sie in der englischen Sprache als Tension (Spannung (Tension) erzeugen) beschrieben wird, flackert rasch auf, wenn der Protagonist einer Geschichte beispielsweise in eine bedrohliche Situation kommt, und löst sich auch wieder auf - Spannung im Sinne von Suspense begleitet den Leser bis an das Ende der Geschichte. Suspense ist dieses Gefühl, das jeder kennt: der übermächtige Drang, eine Geschichte oder ein Buch weiter zu lesen, egal, ob gerade schönes Wetter zum Spazierengehen einlädt.

Ein Beispiel: Du willst einen Thriller schreiben, in dem eine Gruppe cleverer Menschen während einer Ausstellung in Europa eine einzigartige und wunderschöne alte Lokomotive stehlen wollen, die sich im Besitz eines fiesen südamerikanischen Diktators befindet. Suspense ist, wenn dein Leser bis zum Ende des Buchs mitfiebert, ob es den Protagonisten gelingt, die Lok in einer wilden Jagd über die Gleise der Deutschen Bahn, durch alle Sperren hinweg in Sicherheit zu bringen. Tension dagegen sind all die Momente, in denen die Protagonisten in so arge Bedrängnis geraten, dass dir als Leser das Herz für ein paar Minuten bis zum Hals schlägt und du Schweißausbrüche bekommst. Wenn beispielsweise die Diesel-Lok, die das Museumsstück hinter sich her schleppt, um ein Haar auf einen nicht planmäßig fahrenden Güterzug auffährt, den es um diese Zeit an dieser Stelle gar nicht geben darf.

Gelingt es dir durch deine erzählerische Kunst nicht, Suspense aufzubauen, kannst du soviel spannende Momente (Tension) einbauen, soviel du willst: du wirst von der Keule deiner gelangweilten Zuhörer erschlagen, bevor du auch nur eine Chance hattest, alle deine tollen Einfälle zu präsentieren. Du musst es schaffen, den Leser neugierig zu machen, wie es weitergeht, und du musst die Spannung, die diese Neugier weckt, bis zum Ende der Geschichte aufrecht erhalten. Sonst bist du tot.

Wie du dich vor der Keule rettest
Sol Stein (Bücher über das Schreiben: Sol Stein) bringt es auf den Punkt: Hänge deinen Helden an eine Klippe und - lass ihn so lange wie möglich hängen. Er rät uns als Autoren zu einem Verhalten, das in jeder realen Situation als absolut unsozial empfunden werden würde, aber für den Erhalt der Spannung in einer Geschichte unerlässlich ist. Wenn du im täglichen Leben zu der Lösung eines Konflikts beitragen könntest, würdest du es ohne Zweifel sofort tun.

Beim fiktionalen Schreiben darfst du das nicht. Hier ist dein Job, die Rettung so lange wie möglich hinaus zu zögern, eben gerade nicht das ablaufen zu lassen, was der Leser aufgrund seiner ganz natürlichen Reaktion von dir als Lenker der Geschichte erwartet. Handel unverantwortlich an deinen Protagonisten, lass sie hängen. Genau dieses "Fehlverhalten" von dir wird dafür sorgen, dass der Leser die Geschichte oder das Buch nicht beiseite legen kann.

Und stellen dich jetzt mal nicht so an. Du willst doch eine Kurzgeschichte schreiben. Die hat nach wenigen Seiten ihr Ende gefunden, während ein Romanschriftsteller jetzt noch ein paar hundert Seiten ohne Suspense-Durchhänger weitermachen muss.


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