Ich werd' dann mal Schriftsteller

21.01.2020 16:03
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Wie Schreiben funktioniert
Schreiben hat erstaunlich wenig mit Schreiben zu tun. Schriftsteller setzen sich nicht an den Schreibtisch und beschließen, jetzt eine Reihe großartiger Sätze zu formulieren und ein paar Stilmittel einzustreuen - sie erzählen eine Geschichte über lebendige Menschen und der Text entsteht ganz nebenbei.

Lebendige Menschen bilden den Kern
Ein Beispiel aus einer anderen, aber verwandten Welt: Nehmen wir mal an, dass ich groß und gut aussehend bin und ein hervorragendes Gedächtnis habe. Ich könnte auf die Idee kommen: „Ich werd‘ dann mal Schauspielerin!“. Das Problem ist, dass Schauspielern etwa genauso viel mit dem Text zu tun hat wie fiktionales Schreiben.
Würde ich es jetzt wirklich auf eine Bühne schaffen oder vor eine Kamera, würde da eine gut aussehende Sprechpuppe einen brillant memorierten Text wiedergeben. Die Darstellung von Charakteren bedeutet aber etwas ganz anderes: das Schaffen einer Illusion von einem lebendigen Menschen. Das hat nichts mit gutem Aussehen und nichts mit Auswendiglernen zu tun.
Schauspieler müssen in ihre Rolle hineinwachsen, müssen zu dem Menschen werden, den sie darstellen. Sie brauchen emotionalen Kontakt zu ihrem Alter Ego. Emotionalität ist eines der drei Standbeine, um einen mitreißenden fiktionalen Text zu schreiben. Beim fiktionalen Schreiben muss man einen stabilen emotionalen Draht zu seinem Protagonisten (m/w/d) herstellen, muss mit ihm durch den Raum gehen, den die Geschichte bietet und Beziehungen zu anderen Menschen aufbauen. Wie ein Schauspieler, der in das Wesen eines anderen Menschen eintaucht, sind wir während des Schreibens permanent ganz dicht bei unserem Protagonisten. Wir nehmen Anteil an seinem Schicksal und wollen wissen, wie es mit ihm weitergeht.

Von den Menschen zur Geschichte
Geschichten entstehen nicht durch Aneinanderreihung von schicken Sätzen. Die Geschichten entwickeln sich, indem wir gebannt auf unseren inneren Monitor sehen, unseren Helden (m/w/d) in die Bredouille bringen und das Geschehen niederschreiben. Stephen King hat das sehr plastisch in seinem Roman Misery beschrieben. Er spricht dort davon, dass ein Schriftsteller durch ein imaginäres Loch im Papier seiner Schreibmaschine auf das Geschehen blickt. Die Jugendschriftstellerin Enid Blyton berichtete, dass sie nur ein paar Minuten in ihrem Sessel zur Ruhe kommen musste, damit in ihrer Vorstellung ein Film anlief, der ein begonnenes Buch fortführte.
Um schreiben zu können, präziser: um fiktional schreiben zu können, benötigt man eine außergewöhnliche Vorstellungskraft, eine Fähigkeit zur Visualisierung von szenischen Abläufen. Wenn wir schreiben, sind wir dort, in unserer Vorstellung, nicht an unserer Tastatur. Wir sind nicht bei schicken Sätzen, auch nicht bei Stilmitteln, wir dokumentieren in unseren ganz eigenen Worten, was wir auf unserem inneren Monitor sehen.

Die Schreibmaschine
Ich muss es wahrscheinlich nicht betonen: Emotionalität und Visualisierung greifen ineinander beim Schreiben von fiktionalen Texten und beide zusammen steuern etwas, das ich „Schreibmaschine“ nenne. Das ist der Bereich in unserem Gehirn, in dem zu Geschehenem Wörter und Sätze assoziiert werden, die wir mit unseren Händen in eine Tastatur eintippen können. Die Schreibmaschine läuft ganz automatisch, sie wird von Fähigkeiten gesteuert, die wir beim Lesen von früher Kindheit an erworben haben, durch schulische Bildung und durch praktische Arbeit in Schreibwerkstätten.

Talent
Talent ist, wenn die Komponenten Emotionalität, Visualisierung und Schreibmaschine überragend gut ausgebildet sind, und zwar alle drei.
„Ich werd‘ dann mal Schriftsteller“ ist eine Illusion. Man kann diesen Wunsch haben und verfolgen, aber häufig reicht das Talent nur zum Hobbyschreibenden. Stephen King hat in seiner Autobiographie Das Leben und das Schreiben (Bücher über das Schreiben: Stephen King) sehr deutliche Worte über die Autoren-Pyramide geäußert: Es gibt eine unüberschaubar breite Basis an nur mäßig bis gar nicht talentierten Schreibenden, darüber diejenigen, die durch intensive Arbeit an ihrem Handwerk zu brauchbaren Autoren werden können. Dann kommen Leute wie er und ganz weit oben an der Spitze der Pyramide die extrem Talentierten, von denen man auch in 200 Jahren noch spricht.

Schicksal
Ist es jetzt wirklich furchtbar, nur hobbyschreibend zu sein? Ist es wirklich erstrebenswert, jeden Tag schreiben zu *müssen*? Vom Verleger zu Lesereisen genötigt zu werden und jeden Abend bis zum Abfallen der Hand endlose Bücherreihen zu signieren?
Ich glaube, es gibt etwas Schlimmeres, als ein handwerklich geschulter, aber leider unveröffentlichter Hobbyschreibender zu sein, der beim Schreiben Glück empfindet:
ein verbiesterter Möchtegern-Schriftsteller, von allen belächelt.


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