Lebendige Menschen erschaffen

28.01.2020 16:43 (zuletzt bearbeitet: 28.01.2020 16:52)
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Handlung wird von Menschen getragen, die den geschilderten Abläufen ihre ganz persönlichen Merkmale aufprägen, die durch ihr Leben Handlung entstehen lassen. Sol Stein fragt uns (Bücher über das Schreiben: Sol Stein), woran wir uns zuerst erinnern, wenn wir an einen Lieblingsroman zurückdenken: an die Handlung oder an die handelnden Personen? Bei einem Lieblingsfilm: an die Handlung oder die Schauspieler? Worauf es bei einem guten Buch, einer guten Erzählung ankommt, ist, dass die Menschen darin zum Leben erweckt werden, dass sie als Ganzes vor dem geistigen Auge des Lesers entstehen und nicht als zweidimensionale Kunstfiguren aus der Feder eines Autors empfunden werden. Personen, die leben, erzählen ihre Geschichte selbst - Sie als Autor müssen die Stränge nur noch zu einem Ganzen zusammenfügen.*

Leser wollen in eine Geschichte eintauchen. Es gibt gewöhnlich nur einen Weg, wie du das realisieren kannst: indem du dich in eine der handelnden Personen hineinversetzt und die Handlung aus ihren Augen miterlebst. Tatsächlich muss diese Person noch nicht einmal sympathisch sein, es genügt, wenn sie so plastisch dargestellt wird, dass ihr Erleben interessant genug ist, um sich hineinversetzen zu wollen. Sol Stein fasst die Aufgabe, die sich uns stellt, in seiner Kapitelüberschrift sehr anschaulich zusammen: unsere Aufgabe ist, mit Gott zu konkurrieren und lebendige, atmende Menschen zu schaffen.

Die Dünnbrettbohrermethode
Der einfache Weg zu lebenden Charakteren in Ihren Geschichten ist dir sicher bekannt: viele von uns haben die ersten Schritte im Schreiben bereits in jungen Jahren getan. Kannst du dich noch daran erinnern, wie du eigene Geschichten zu bekannten Buchreihen oder bekannten Fernsehserien geschrieben hast? Für die Fossile unter euch, die zufällig in meinem Alter sind: hast du nicht als Kind begonnen, eigene Geschichten zu Enid-Blyton-Büchern wie der "Fünf-Freunde"-Reihe zu schreiben? Hast du nicht im Teenager-Alter eigene Episoden zu der in den siebziger Jahren sehr bekannten TV-Serie "Raumschiff Enterprise" geschrieben? Das war irgendwie ziemlich einfach, weil die Personen bereits von anderen zum Leben erweckt worden waren - darum brauchtest du dich gar nicht zu kümmern.

Wenn du dabei bleiben möchtest, mach weiter so, es gibt nichts daran zu kritisieren. Du bist grundsätzlich in bester Gesellschaft, denn Autoren von Reihenromanen nutzen nach dem Debütroman zumindestens für ihre Hauptpersonen - zum Beispiel Martha Grimes' Inspektor Jury - den gleichen Dünnbrettbohrertrick. Aber denke immer daran, dass für völlig fiktionale Geschichten tatsächlich göttliche Fähigkeiten gefordert sind. Auch Inspektor Jury ist nicht aus dem Nichts, sondern aus "göttlichem" schriftstellerischen Können entstanden.

In echte Konkurrenz zu Gott treten
Was solltest du erschaffen, Menschen wie du und ich oder besondere Menschen, die herausragende Attribute besitzen, die sie bemerkenswert machen? Du tendierst wahrscheinlich zu der ersteren Möglichkeit, weil du so lebensnah wie möglich schreiben willst. Tatsachlich ist es aber so, dass niemand eine Geschichte lesen wollte, in der du oder ich die Hauptrolle spielen - denn richtig interessant werden wir beide nur, wenn man bestimmte Charaktereigenschaften so stark in den Vordergrund rücken würde, dass wir nur noch eine überspitzte Karikatur unserer selbst wären.

Sei ehrlich: würdest du wirklich eine Geschichte lesen wollen, in der alle langweiligen Nachbarn aus deinem Mietshaus auftreten, nicht nur der nette Student von gegenüber und die freundliche alte Dame im Erdgeschoss, die ganz in ihrem Garten aufgeht? Der nette junge Mann ist nämlich deshalb so nett, weil er irgendeine kleine Besonderheit aufweist, die ihn dir gegenüber den anderen grauen Langweilern im Haus so sympathisch macht.

Und die alte Dame - magst du sie nicht gerade deshalb, weil sie sich so wohltuend von den festgefahrenen alten Säcken eine Etage höher abhebt, die immer nur misstrauisch äugen, ob du den Flur auch mit deutscher Gründlichkeit putzst? Was ich sagen will: wir mögen Menschen aufgrund ihrer Besonderheiten, nicht aufgrund ihrer uniformen "Normalität". Und dass wir uns für unsere Protagonisten interessieren, sie vielleicht sogar mögen wollen, hatten wir schon ganz zu Anfang festgestellt. Der Zuschlag geht also an die Erschaffung besonderer Menschen.


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