Warum Geschichten eine Wandlung haben sollten

23.01.2020 07:05 (zuletzt bearbeitet: 24.01.2020 17:06)
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Was kann ich tun, um eine gute Geschichte zu schreiben?
Diese Frage ist erstaunlicherweise leicht zu beantworten: Konzentriere dich ganz auf deinen Leser, sorge dafür, dass er nicht mehr aufhören kann zu lesen, weil deine Geschichte spannend und mitreißend ist und nicht mehr loslässt. Deine Leser müssen Anteil am Schicksal deines Helden (m/w/d) gewinnen, müssen wissen wollen, was mit ihm im Laufe der Geschichte passiert.
Tatsächlich stellt diese Forderung auch gar kein Problem dar, denn du bist selbst Bestandteil dieser anonymen Leserschaft, möchtest selbst von den fiktionalen Inhalten mitgenommen und weggespült werden.

Wir alle sind Nachkommen von Jägern und Sammlern, die abends am Feuer saßen und einem Geschichtenerzähler zuhörten, der ihnen eine spannende Geschichte erzählte. Wahrscheinlich ging es um Jagderfolg und die Helden waren gegenüber der Wirklichkeit deutlich überhöht. Alle wussten das und alle liebten es, diese Illusion vorgesetzt zu bekommen und mit dem Erzähler durch die Heldenreise zu marschieren. Altmeister Sol Stein (> Über das Schreiben) benutzt dieses Bild und er ergänzt, dass unsere Altvorderen einen Erzähler umgebracht haben, wenn er seinen Job nicht ordentlich gemacht und sie gelangweilt hat. Wahrscheinlich waren sie nicht wirklich so rabiat, aber eine ordentliche Kopfnuss werden sie ihm schon verpasst haben, wenn er sie ohne spannende Erzählung und ein überzeugendes Ende in die Schlafsäcke geschickt hat.

Die Zutaten für eine spannende Geschichte sind:

- lebendige Menschen, die fühlen und kommunizieren,
- eine emotional fordernde Situation, die etwas in einem Menschen bewirkt
- und ein Ende, an dem ein Mensch steht, der durch die Handlung der Geschichte verändert wurde.

Merke dir einfach: Dein Held muss am Ende der Geschichte durch das Geschehen verändert sein. Das kannst du durch einen Vergleich zwischen Anfang und Ende überprüfen.

Wir gehen jetzt durch drei Texte aus der Schreibwerkstatt und versuchen herauszubekommen, warum sie uns mitnehmen.


Wie funktioniert das?: Wandertag mit Iris

Die Geschichte hat einen Ich-Erzähler, einen Mann mittleren Alters. Er startet an einem Ferienort in den Bergen zu einer Wanderung, freut sich darauf, an einem Treffpunkt seiner Frau Iris zu begegnen, um mit ihr seine Wanderung fortzusetzen. Wir lesen:

"Nicht so schnell, Hans", ertönte plötzlich ihre Stimme. "Du wirst dir noch den Hals brechen bei diesem Tempo."

Ich lachte glücklich auf. Iris mit ihren Sorgen und Nöten. Schnell hatte ich sie damals durchschaut und es war fortan eine Art Spiel für uns geworden. Sie mimte den Angsthasen und meine dadurch geweckten Beschützer- und Heldeninstinkte gaben mir das Gefühl, gebraucht zu werden, wichtig zu sein, ihr etwas von ihrer Liebe zurückgeben zu können. In Wahrheit war natürlich ich es, der sie brauchte.


und lernen den Ich-Erzähler jetzt in seiner menschlichen Mehrdimensionalität kennen, erfahren über die Beziehung der beiden Menschen und kommen ihnen dadurch näher. Die Protagonisten sind uns wichtig geworden, wir nehmen Anteil an ihrem Schicksal und wollen wissen, wie es mit ihnen weitergeht.

Die Geschichte plätschert mit einer zerstreuenden Leichtigkeit vorwärts, bis sich Zweifel an der Idylle einschleichen:

Langsam ging ich nach vorn bis an die Kante neben das neue Warnschild und legte die Hände auf das quer über den Weg verlaufende, massive Holzgeländer. Wenige Meter vor mir hörte die Welt auf zu existieren. Der Weg, wie von einer unglaublichen Macht abgerissen, öffnete sich einer gähnenden Leere. Ein unüberwindlicher Sog schien von dem Abgrund auszugehen. Wie still es auf einmal war. Nur ein kleiner Schritt weiter ...

Die vorher glückliche Stimmung kippt und düstere Vorboten ziehen auf.

Eine kalte Hand greift nach unserem Herz, als wir lesen müssen:

"Warum gehst du eigentlich nicht mehr mit deinen Freunden aus?", fragte Iris plötzlich. "Ich weiß doch, dass sie dir fehlen."

"Du fehlst mir", brach es aus mir heraus. Meine Finger krallten sich in das feuchte Holz des Geländers. Sie hatten das alte, morsche ersetzt, auf das Iris sich damals hatte stützen wollen. "Du fehlst mir so sehr."


Die unschuldigen Sätze: "Meine Finger krallten sich in das feuchte Holz des Geländers. Sie hatten das alte, morsche ersetzt, auf das Iris sich damals hatte stützen wollen." lassen uns plötzlich erkennen, dass Iris nicht mehr lebt, dass unser liebenswerter Ich-Erzähler in einer unglücklichen Illusion durch die Bergwelt unterwegs ist. Iris ist tot, sie ist in die Schlucht gestürzt und der Erzähler ist an den Ort zurückgekehrt, an dem er seine geliebte Frau verloren hat.

"Noch nicht", sagte Iris sanft. "Die Kinder brauchen dich."

Ich nickte, unfähig einen Laut von mir zu geben, während Tränen sich an meiner Nasenspitze sammelten und in dicken Tropfen auf das Geländer fielen. Meine Glieder fühlten sich schwer an, unendlich müde. Einfach stehen zu bleiben, kostete mich alle Kraft, die ich aufbringen konnte.


Wir fühlen mit dem leidenden Erzähler mit, nein: wir biegen uns vor tief einschneidendem Mitgefühl. Die Geschichte steuert auf ihren emotionalen Höhepunkt zu:

"Geh nicht", flüsterte ich. Doch es war vorbei.

Mühsam richtete ich mich auf, folgte dem Pfad zurück zum Hauptweg, und machte mich an den Abstieg ins Dorf. Wie jedes Jahr legte ich den Weg in einer Art Trance zurück. Wie jedes Jahr nahm ich mir vor, nie wieder hierher zu kommen, endlich loszulassen. Wie jedes Jahr wusste ich, dass ich das nicht schaffen würde - noch nicht. Unser Wandertag. Dieser eine Tag im Jahr, an dem ich wenigstens für ein paar Stunden mit Iris zusammen sein konnte. Als ich Balding erreichte, war es schon dunkel. Vorbei an der Rezeption, unbesetzt wie ich dankbar feststellte, stieg ich die knarrende Holztreppe hinauf, schloss die Zimmertür auf und ließ mich auf das Bett fallen. Nur ein Jahr. Irgendwie musste ich das durchhalten.


Die furchtbare Wahrheit hinter dieser scheinbar heiteren Bergwanderung ist, dass dieser Mann Jahr für Jahr an den Ort des Unglücks zurückkehrt, weil er nicht verwinden kann, dass seine Frau nicht mehr an seiner Seite ist. Das Ende ist offen. Wir wissen nicht, wie es mit ihm weitergeht, ob er über die Jahre etwas aus der Begegnung mit seiner Frau und dem stillen Zwiegespräch mit ihr schöpfen kann, das ihn eines Tages erlösen wird. Wir bleiben mit dieser Unsicherheit und tief berührt am Ende der Geschichte zurück.


Das Wichtige an dieser Geschichte ist die Wandlung, die sich beim Lesen bei dem Ich-Erzähler und uns vollzieht. Wir schließen Freundschaft mit diesem sympathischen Mann, gehen mit ihm durch die goldene Herbstlandschaft. Der Erzähler ist anfangs glücklich, ganz gefangen in seiner Illusion, wir sind es auch. Dann dreht sich das Blatt, ganz langsam, Stück für Stück. Wir erfahren eine traurige Geschichte, blicken in menschliche Abgründe, empfinden plötzlich tiefes Mitleid für den bedauernswerten Mann, den wir gerade erst kennen lernen durften. Wir lassen ihn unglücklich und mit seiner unveränderten Last zurück.

Anfang-Ende-Check: Der Protagonist geht glücklich in die Geschichte hinein, die (nicht realen) Erlebnisse lassen ihn unglücklich zurück.

Gibt es lebendig dargestellte Menschen? - Ja!
Werden Emotionen geweckt? - Ja, sehr deutlich!

Diese Geschichte lebt davon,
- dass sie einen dreidimensional angelegten Menschen als Protagonisten hat,
- dass es eine lebendige Kommunikation gibt, die sich um Aspekte menschlicher Beziehungen dreht
- und dass es diese Wende gibt, den Moment, in dem wir die Wahrheit sehen.

Funktioniert!


Wie funktioniert das?: Das Leuchten
Die Geschichte beginnt damit, dass wir zwei Angehörige der Zeugen Jehovas in ein Haus begleiten, wo sie denjenigen, der ihnen gerade die Tür geöffnet hat, mit ihrer Heilslehre vertraut machen wollen. Die Hauptrolle spielt Margret, während ihre Begleiterin im Hintergrund bleibt. Die beiden sind nicht mehr die Jüngsten, wir spüren, wie mühsam es für sie ist, die Stufen im Treppenhaus zu bewältigen. Margret wappnet sich für die Begegnung mit einem Unbekannten, indem sie die Kraft ihres Gottes wie ein Leuchten durch ihr Inneres strömen lässt.

Die Begegnung verläuft ungewöhnlich. Der alte Mann, der ihnen geöffnet hat, bringt den beiden Frauen Wohlwollen entgegen, bemüht sich, ihnen ihren "Job" so leicht wie möglich zu machen. Margret spürt plötzlich, wie das künstlich erzeugte Leuchten in ihr von echter menschlicher Wärme verdrängt wird.

Auch hier ist es wieder die Wandlung in der Protagonistin, die in uns das Gefühl erzeugt, etwas erlebt zu haben. Nimmt man die Wandlung heraus, also den Moment, wo Margret plötzlich merkt, dass ihr der alte Mann Anteilnahme für ihre Situation entgegenbringt, versucht, ihr etwas Wohlbehagen zu vermitteln, dann wird die Geschichte plötzlich blass und fade. Margret ginge dann in das Haus, würde leuchten, ihre Sprüche absolvieren und weiter leuchtend mit ihrer Kollegin nach unten gehen. Nichts wäre passiert.

Anfang-Ende-Check: Margret geht erfüllt von künstlichem Leuchten in die Geschichte hinein und verlässt sie voll von echter menschlicher Wärme.
Passt!

Es sind diese emotionalen Wandlungen, die wir beim Lesen mögen.


Wie funktioniert das?: Zehn Bilder und ein Einhorn
Das ist eine nicht ganz ernst zu nehmende Geschichte mit sehr selbstbezüglichem Inhalt. Es fallen Begrifflichkeiten wie "Motivierung", "motivischer Komplex" und natürlich auch "Wandlung", weil das Ganze mit einem zwinkerndem Auge mit Blick auf Schreiben und Textanalyse entstanden ist.

Da gibt es dieses große schwarze Einhorn, das einen ziemlich entnervten Schriftsteller mit drängenden Schreibauftrag nachts aufsucht, um ihn zu von der unvollendeten Geschichte loszueisen. Der sensible Schreiber empfindet das Machoeinhorn als ziemlich unangemessen, vertraut sich ihm dann aber doch an und erlebt eine verzaubernde Reise durch seine eigenen verdrängten Wünsche.

Das schwarze Einhorn macht einfach seinen Job, es betreut mit stoischer Gelassenheit "Kerle" mit handfesten Problemen, während die rosafarbenen und weißen Kollegen eher zu romantischen Frauen in Nöten geschickt werden. Doch diese nächtliche Episode hat eine Überraschung für das Riesentier bereit: Der Schriftsteller küsst das Pferd zum Abschied auf die Nase und plötzlich hat es eine (emotionale) Vorstellung davon, was die andersfarbigen Kollegen mit ihren Klientinnen so häufig erleben. Es wird die Erinnerung an diese Nacht mitnehmen, wenn es beim nächsten Einsatz wieder einen von den gröberen Typen betreuen muss.

Würde man das wegnehmen, diese emotionale Erfahrung des schwarzen Einhorns, dieses beglückende Gefühl, aus Dankbarkeit geküsst zu werden, würde die Geschichte stark abflachen. Natürlich gibt es da noch diesen kleinen Witz mit der "Wandlung", bei dem das Einhorn in das Notebook tritt und es zerstört, sodass Schluss ist mit der unvollendeten Geschichte des Schriftstellers. Aber das ist ein blasse Pointe, die wenig Eindruck macht. Wenn wir uns später noch an diese Geschichte erinnern, ist es deshalb, weil das Einhorn, das uns und den Protagonisten auf eine zauberhafte nächtliche Reise genommen hat, dafür eine Portion Glück als Lohn erhalten hat.

Anfang-Ende-Check: Das Einhorn geht mit der Erwartung in die Geschichte hinein, auf den üblichen wenig gefühlvollen Kerl zu stoßen, und kommt beglückt heraus.
Jau!

Denkt beim Schreiben an die Wandlung, Leute!


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